Weltrettungsmodell, Selbstverwirklichung oder Versorgungsnetz?
Nein, es gibt sicher kein „falsches“ Alter für Gemeinschaft. Und sicher haben immer alle drei dieser Aspekte Anteil an der Motivation, in einer Gemeinschaft leben zu wollen, der eine mehr, der andere weniger. Aber offenbar verschieben sich diese Antriebe im Laufe des Lebens.
Ich finde es immer ein wenig schade, wenn das Bedürfnis nach Gemeinschaft erst dann aufkommt, wenn der Aspekt der Versorgung im Alter natürlicherweise mehr in den Vordergrund tritt. Wir lernten einen Senior in den Siebzigern kennen, der nach einem Leben in trauter Zweisamkeit plötzlich richtig aufdrehte und versuchte, ein Gemeinschaftsprojekt für ältere Menschen auf die Beine zu stellen. Es war alles gut durchdacht, er hatte eine günstige zum Verkauf stehende Immobilie im Visier, er gewann auch ein paar Unterstützer, uns inklusive – und doch musste er nach zwei Jahren die Segel streichen, weil sich keine Leute fanden, die mit in die Gemeinschaft einsteigen wollten. Woran es lag? Ich kann nur mutmaßen, dass die potenziell Interessierten der Aufwand des Mitaufbaus schreckte. Man musste schon ein Stück Pioniergeist mitbringen, um sich bei dem verlassenen und wild umgrünten Gehöft vorstellen zu können, dass man hier mal entspannt und mit dem gewünschten Komfort seinen Lebensabend verbringen kann. Nachdem man erstmal ordentlich die Ärmel aufgekrempelt oder seine Kinder faktisch enterbt hat.
Ich finde es toll, dass heute immer mehr Menschen in jungen Jahren sich aufmachen, in Gemeinschaft zu leben oder gar eine zu gründen. Wenn man noch die Kräfte in sich fühlt, die Welt aus den Angeln zu heben und allerlei Visionen davon hat, wie man die Gesellschaft, das Leben und den ganzen Rest verändern will. Bis man dann „seinen“ Platz gefunden hat, liegen sicher allerlei Ortswechsel auf dem Lebensweg. Man muss sich und seine Bedürfnisse ja erstmal kennenlernen. Und dann verändern sich die mit der Zeit auch noch.
In meiner Jugend und in den frühen Zwanzigern war kaum jemand in meinem Umfeld vor meinem Weltverbesserungsaktivismus sicher. Mit Unterschriftenlisten von Greenpeace und eigenen Schrieben an allerlei Politiker nervte ich Mitschüler und Kommilitonen. Das Miteinander in der Studenten-WG genoss ich, aber dass Leben in Gemeinschaft auch ein Modell zur Weltverbesserung sein könnte, kam mir damals noch nicht in den Sinn.
Die folgende Zweisamkeit in einer Neubauwohnung machte dann deutlich, dass dies auf Dauer kein beglückendes Modell für mich ist. Ich wollte mehr draußen sein und mit anderen zusammen etwas schaffen. Die Selbstverwirklichungsphase rückte in den Fokus. Zwei Jahre Mitleben auf einem Demeter-Familienbetrieb brachte mir die wichtige Erkenntnis, dass meine Kräfte Grenzen haben – die ich vorher tatsächlich nie wirklich ausgereizt hatte. Und das meine ich jetzt ganz platt körperlich. Doch, sogar nach dem Einstapeln der Heuernte auf dem heißen, staubigen Dachboden, als ich mich fühlte, als hätte ich mindestens zehn Jahre Lebenserwartung eingebüßt, erholte ich mich wieder. Es gab ja auch jeden Tag jede Menge zu tun und der Berg an Arbeit schien nie kleiner zu werden. Sich für das Erreichen eines Ziels auch mal ordentlich anstrengen, ist schön. Aber für das reine Überleben im Alltag strampeln wie ein Hamster im Laufrad ohne nennenswerten Freiraum für Besinnung oder Weiterentwicklung lässt irgendwann Erschöpfung einsetzen. Diese vor allem psychische Erschöpfung wirkte sich auch auf meine Gesamtkonstitution aus.
Ein zweiwöchiger Schnupperaufenthalt in der Findhorn-Community brachte die gegenteilige Erfahrung. Alles lief supergemütlich in einer perfekt geschmierten und getakteten Organisation. Als ich eine Tätigkeit trotz Einläutens der tea time noch beenden wollte, hatte ich prompt meinen Stempel als Repräsentantin deutscher Arbeitsdisziplin weg. Hier fühlte ich mich nicht wohlig ausgelastet und für mein Quäntchen Pioniergeist fand ich hier gar kein Futter.
Die Dreißigerjahre vergingen mit dem Aufbau meiner Selbständigkeit in meinem eigentlichen Beruf als Grafikdesignerin in wieder völlig neuem Umfeld, in Hamburg. Das Bedürfnis, selbst für mein Einkommen sorgen zu können und auch keine Ausgaben rechtfertigen zu müssen war wohl so zentral, dass das Thema Lebensgemeinschaft erstmal im Hintergrund blieb. Dafür trat mit dem Internet eine neue Form der Gemeinschaftlichkeit auf den Plan: Das Netzwerk. Zusammen mit meinem Partner gründete und betrieb ich ein Netzwerk von Selbständigen rund um die Medienbranche.
Dieser Pool an Kooperationspartnern und der fachliche Austausch im Arbeitsalltag war für jeden, der aktiv dabei war, sehr nützlich, war man doch plötzlich kein Einzelkämpfer mehr. Mehr und mehr jedoch vermisste ich über jobbezogene Kooperationen hinaus echte Verbindlichkeit zwischen den Mitgliedern, das Verfolgen gemeinsamer Ziele auf Basis gemeinsamer Werte. Irgendwann musste ich realisieren, dass das in diesem Rahmen nicht zu erreichen war.
Für einen neuen Anlauf in Richtung realer Alltagsgemeinschaft hatte ich inzwischen allerdings eine andere Ausgangsbasis. Ein solider Kundenstamm sorgte für verlässliche Einkünfte und das Internet machte mich räumlich weitgehend unabhängig. Inzwischen bepartnert mit einem Menschen, der sich ebenfalls für das Leben in Gemeinschaft erwärmte, kam die Vision ins Rollen. Vom ersten Fühlerausstrecken bis zum Finden der passenden Menschen und dem richtigen Ort vergingen dann nochmal etwa sechs Jahre.
Ich staune heute immer wieder, wieviele neue Gemeinschaften gegründet werden und nach Mitmachern suchen. Es scheint nicht einfach zu sein, in dem großen Feld bestehender Gemeinschaften die zu finden, in die man gut hineinpasst. Bestehende Gemeinschaften sind allerdings auch mit dem Makel behaftet, dass man alles in der Realität sehen kann, was man so nicht haben will … und was in der eigenen Vision natürlich nicht auftaucht. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der Bärenkräfte freisetzt, nach dem eigenen Ideal zu streben. Dann kommen die Wirklichkeit und die anderen Menschen. Und das Abenteuer beginnt.
Wir haben uns auch in anderen Gemeinschaften oder bei Menschen, die Interesse an Gemeinschaft signalisierten, umgeschaut, waren in verschiedene Richtungen offen. Schnell war jedoch klar, dass die Gemeinschaft nicht zu groß sein durfte. Vielleicht rührt mein Bedürfnis nach einer gewissen Effizienz aus meiner Selbständigkeit, so dass es mich höchst unzufrieden stimmt, wenn der verbal-sozial-bürokratische Teil der Gemeinschaftsarbeit den praktischen Teil dominiert. Also galt es, eine kleine, überschaubare Truppe zu finden, in der man sich auf kurzem Wege im Alltag verständigen kann.
Nun, in den Mittvierzigern, schienen die Voraussetzungen gut für ein längerfristiges Gemeinschaftsmodell. Mir war ziemlich klar, was ich brauchte, die finanzielle Basis stimmte und – das Bedürfnis nach einem Platz, wo ich mich wirklich verwurzeln konnte nach den vielen Standortwechseln, war groß. Ich wollte in der Lage sein, einen Baum zu pflanzen, dessen Früchte ich irgendwann ernten und an dem ich in der Hängematte schaukeln kann.
Das Bedürfnis, das im Vordergrund stand und noch immer steht, ist das Pflanzen und Pflegen. Und – ganz wichtig – das Beim-Wachsen-Zusehen.
Als ich jetzt beim Aufsetzen der Mitbewohner-Suchseite angab, drei derzeitige Bewohner zwischen 50 und 60, zuckte ich innerlich. Dieses Frühjahr wurde ich fünfzig und hatte zu dieser Zahl keinen tieferen Bezug. Aber mich und uns jetzt so etikettiert zu sehen, das wirkte plötzlich wie die Zielgerade zur Pflegegemeinschaft. Im Alltag fühlt es sich eher alterslos an, außer dass man sich hier und da mit dem Zwickzwack der biologischen Uhr auseinandersetzen muss. Da kann es schon richtig systemrelevant sein, nicht mehr irgendeinen Zahnarzt im Nachbarort zu haben, sondern einen ausgefuchsten Parodontologen. Aber das mentale Klima, in dem wir uns wohlfühlen, scheint sich seit dreißig Jahren nicht groß geändert zu haben. Im Harzurlaub vergangene Woche alberten wir in der Studentenkneipe Anno Tobak herum, während sich die jungen Leute am Nebentisch mit der Zulassungsbürokratie der TU auseinandersetzten.
Es hat schon Vorteile, älter zu werden. Man muss sich mit allerlei Dingen nicht mehr rumschlagen, seien es Studiumsbürokratie, profilneurotische Ausbeuter oder das dahinröchelnde Über-Ich. Man weiß ziemlich gut, was man braucht und wie man tickt. Man hat manches kapiert davon, wie das Leben so tickt. Wo die eigene Handhabe liegt, wenn die infamen Umstände oder Mitmenschen oder Gesellschaftssysteme nicht so wollen wie man selbst. Und, vor allem, dass es verdammt viele Zwischentöne im Leben gibt. Was mal schwarz-weiß aussah, zersplittert im näheren Hinsehen in Fraktale aller Schattierungen, die sich letztlich als Spiegel erweisen. Und als Netz von Verbindungen, in das wir verwoben sind und an dem wir täglich mitweben, von dem uns jedoch nur der kleinste Teil bewusst ist. Die Dinge sind nicht auf Knopfdruck veränderbar. Und der Ärger über eine missliche Situation lohnt sich oft nicht, da das, was daraus folgt, die ganze Situation verändern kann.
So ist aus dem Gefühl, ein Lotsenboot zu sein, das andere in die vermeintlich richtige Richtung dirigieren muss, ein kleines Kajütboot geworden. Groß genug, dass ein paar andere mit hineinpassen. Mit einem recht soliden Kiel, der den gemeinsamen Kurs stabilisiert. Jeder steht mal am Ruder und weiß, dass das Schiffchen nicht gerade in der Antarktis rauskommt, wenn mal ein anderer steuert. Aber wir wissen, dass Wind und Wellen unseren Kurs und unser Fortkommen mitbestimmen. Und natürlich neue Crewmitglieder.