„Wie innen, so außen.“ Im Sinne dieses hermetischen Prinzips würde ich sagen, äußere Baustellen sind innere Baustellen.
Man erfährt nicht nur etwas darüber, wie die eigene Psyche konstruiert ist, sondern bestenfalls auch, wie man sie weiter beackert, um mit der äußeren Welt besser klar zu kommen. Und ein altes Haus bietet eine Fülle solcher Gelegenheiten.
Schon lange hatten wir im Visier, den Dachboden zu machen, genauer, die Zwischendecke vom Erdgeschoss zum Dachboden des vorderen Hausteils. Obwohl das Dach vor vier Jahren neu eingedeckt worden war, blieb der schöne große Raum dennoch unbenutzbar, weil in weiten Teilen die Bodenabdeckung fehlte. Die alte Glaswolle lag von Mardern, Mäusen und Katzen zerwühlt und verschissen offen da. Nach unten zum Erdgeschoss war nur eine Rigipsdecke eingezogen. Bei der Dacherneuerung hatten wir immerhin in „weiser Voraussicht“ 140 qm OSB-Platten durchs offene Dach nach oben verfrachtet, um die Bodendeckung zeitnah in Angriff nehmen zu können. Denn ein normaler Aufgang ins Dachgeschoss existierte bislang nicht.
Immerhin – mit den (auch sonst nicht untätigen) Jahren, die ins Land gingen, entstand mit tatkräftiger Hilfe von Tischlernachbar Torsten ein zauberhafter Treppenaufgang. Das war im letzten Jahr und es war wieder einer dieser Quantensprünge, die neue Spielräume eröffneten. Der leichte Zugang zum Dachboden ebnete den Weg zum Schicksal aller Dachböden, die keiner wichtigeren Bestimmung vorbehalten sind: Der Raum wurde zur Rumpelkammer.
Doch damit sollte nun Schluss sein. Am Horizont lockte die Vision eines gemeinschaftlich genutzten Raums zum kreativen Arbeiten, für Ausstellungen, Musik und Tanz, großes Puschenkino und alles, wofür der Alltagswohnraum zu beengt ist. Es sollte die vorgeschaltete kleinere Baustelle sein, bevor Loka dieses Jahr an seinen drei Südräumen neue Fenster bekommt.
Nach dem Ausmisten und Umräumen des begehbaren Teils begann es damit, die alte Glaswolle aus den offenen Fächern zu räumen – eine Arbeit, für die wir gern ein paar Niedriglohnarbeiter ausgebeutet hätten, wären wir nicht zu skrupulös gewesen. Seltsamerweise flog mich auch das Gefühl an, es würde mich stärker mit dem Haus verbinden, wenn ich mit eigenen Händen den alten Dreck aus seinen Eingeweiden entferne. Wie die Astronauten bei der Mondlandung stapften wir in weißen, viel zu großen Einwegoveralls mit Mundschutz und Handschuhen die Fächer entlang und packten das tückische Gewölle in große Säcke, um sie später auf die Deponie zu fahren. Unter dem weichen Material wanden sich plötzlich vier nackte kleinfingerdicke Würmchen – ein Mäusenest! Was tun? Wir überließen die hilflosen Babys in der Arbeitspause ihrem Schicksal, hoffend, dass es Mama Maus sein würde, die ihre Kleinen in Sicherheit bringt, bevor die nächste Katze vorbeispaziert. Und siehe da – als wir wiederkamen, waren die Kleinen verschwunden.
In einem Teil des Dachbodens befand sich Perlite, die sich bereits munter vermischt hatte mit hereingewehten Herbstblättern, herabgebröselten Splittern aus den alten, modrigen Balken, Hunderten, offensichtlich von Tieren geknackten Walnussschalen, Brocken von Bauschaum, Plastikfolien, Kabelstücken, Lehm- und Mörtelklumpen, Ziegelbrocken, Papierfetzen… Bis dato dachte ich, der einzige Nachteil des mineralischen Dämmstoffs Perlite bestünde im hohen Energieverbrauch bei der Herstellung. Beim Entmüllen des bunten Gemischs lernte ich Perlite hassen. Selbst mit der Atemschutzmaske hatte ich das Gefühl, innerlich zu verstauben. Beim Aufklaren des historischen Ballasts der letzten Jahrzehnte gab die Dämmung auch ein Stückchen persönliche Geschichte ehemaliger Hausbewohner preis: Dem Staub des Vergessens entrissen wir die Kriegsdienstverweigerung eines früheren Bewohners aus den 80er Jahren und den dazugehörigen Briefwechsel mit dem Kreiswehrersatzamt. Damals war die Verweigerung des Waffendienstes noch ein heroischer und nervenzehrender Akt. Wenn man sich vergegenwärtigt, mit welcher Perfidie der Staat damals alles daransetzte, das persönliche Selbstbestimmungsrecht in einer fundamentalen Gewissensfrage auszuhebeln, möchte man glauben, dass es in manchen Dingen doch entscheidende politisch-gesellschaftliche Verbesserungen gegeben hat.
Vielleicht sind ja auch wir in der Lage, der über 200-jährigen Geschichte dieses Hauses Bausteine hinzuzufügen, die als Verbesserung empfunden werden können. Das neue Dämmmaterial musste leicht sein, wenn wir nicht die ganze Deckenkonstruktion zum Erdgeschoss erneuern wollten. Dazu haben wir derzeit weder Geld noch Zeit. Und natürlich sollte es möglichst ökologisch sein, mit geringem Energieaufwand hergestellt, gute Dämmwerte haben, nicht brennbar sein und ungezieferabweisend – und obendrein erschwinglich. Die Wahl fiel schließlich auf von Sonne und Wind getrocknetes Seegras aus der Ostsee.
Ein Kooperationspartner der kleinen Firma Seegrashandel* rollte Ende April mit Lieferwagen und Hänger auf unseren Hof und gemeinsam entluden wir sechs große Rundballen, wie die dicken Strohrollen, die man im Spätsommer auf den abgeernteten Getreidefeldern sehen kann. Mit einer Plane wie in einer Hängematte brachten wir das rascheltrockene Material des ersten Ballens nach oben und verteilten es in die saubergefegten Fächer. Im ganzen Dachboden machte sich ein heuartiger Duft breit. Herrlich! Ich glaubte, das alte Haus wohlig seufzen zu hören. Fast wie in alten Zeiten, als unten Kühe standen und der Dachboden mit Heu und Stroh gefüllt war.
Ab sofort machte sich Wohlfühlatmosphäre im Dach breit. Die schlimmsten Drecksarbeiten sind erledigt, jetzt kommt der Aufbau: Der Boden muss ein nivellierendes Lattengerüst bekommen, auf dieses Lager kommt die begehbare Abdeckung. Die schönen Stapel von OSB-Platten, die wir seinerzeit so vorausschauend bereits deponiert hatten, mussten wir allerdings wieder abstoßen. Von verschiedenen Seiten wurde uns eindringlich geraten, den Boden diffusionsoffen zu machen, wenn wir Kondenswasser und Schimmelbildung in der Dämmschicht vermeiden wollen, da das Dach vorerst ungedämmt bleibt. Glücklicherweise war der Handwerksbetrieb, der uns die OSB-Platten geliefert hatte, so kulant, die Platten zurückzunehmen, um sie dann mit den künftigen Rauspundbrettern zu verrechnen.
Mit einem Laser-Nivelliergerät ausgerüstet und bei den ersten Schritten unterstützt von einem befreundeten Zimmermann legten wir los. Was zuvor als eine Sache von Tagen eingeschätzt wurde, entpuppte sich jedoch bald als Baustelle mit Sysiphosqualitäten. Nichts klappte wie geplant. Die Lagerbalken waren in alle Richtungen gewölbt und gewunden, die Ausgleichsklötzchen mussten wieder und wieder abgelängt und nachgearbeitet werden. Immer wieder mussten bereits angeschraubte Balken und Klötze wieder entfernt werden, weil man konstruktiv in falscher Reihenfolge gearbeitet hatte oder ein Auflagebalken sich als porös entpuppte. Zu allem Überfluss benötigten die verschiedenen Schrauben unterschiedliche Bits für die Schraubenköpfe. Die Suche nach dem jeweils passenden Bit, ausleiernde Schraubenköpfe, in der Dämmung verschwindende Schrauben, ein bei jedem Schritt wackelndes Nivelliergerät, verpeilte Messungen, verlegte Stifte, Zollstöcke, Papiere bildeten am gestrigen Tag eine Kakofonie von Unbilden, die uns an den Rand des Wahnsinns trieb. Als ich mich auf den letzten Metern auf dem Balken verrenkte, um mit dem Kopf in der verhassten staubigen Perlite und schwindenden Kräften eine verpeilte Bohrung nachzuholen, die prompt in die Hose ging, war ich erstmal fertig mit der Welt. Eine kleine Verschnaufpause später und mit kollegialer Unterstützung würgten wir das Kantholz fest und schworen uns, das Ganze müsse auf andere Weise weitergehen. Hatte Zimmermann Holger nicht davon gesprochen, dass sie in zwei Tagen das Nivellierlager einziehen könnten? Ich fühlte mich bereit, meine Sparreserven zu plündern, um den Krampf von der Backe zu haben. Geht es nicht um Lebensqualität, ähem!?
Loka, der bereits seit einigen Tagen an der Elektrik werkelte, damit wir endlich vernünftig Licht in die Butze kriegten, lächelte abgeklärt: „Das ist eben eine Herausforderung.“ Soso. Muss man denn alles im Leben selber machen können, zum Teufel!?
Nach einer Nacht des Drüber-Schlafens war ich heute wider Erwarten guten Mutes und voller Tatendrang. Hatte das Arbeitsprinzip durchdacht und befand, dass es eigentlich doch ganz einfach sei. Wir würden nur noch die einigermaßen geraden Kanthölzer verwenden und die krummen Hunde später durch neue, gerade ersetzen. Die Krummhölzer taugten immerhin noch als Ausgleichsklötzchen. Wir würden alles vorher genau ansehen, durchdenken, die richtigen Schritte nacheinander machen, durch genaue Messungen sofort die richtigen Klotzgrößen schneiden, mit einem Gerät vorbohren, mit dem anderen die Schrauben versenken, fertig. Wenn alles flutscht, sollte es doch möglich sein, einen Lagerbalken in Hausbreite in einer halben Stunde zu setzen. Gestern hatten wir dafür viereinhalb Stunden gebraucht (einschließlich der Korrektur eines Teils des ersten Lagerbalkens). Heute gingen wir gegen 12 Uhr ins Dach. Das Ziel, den nächsten Lagerbalken vor dem Ausflug zum benachbarten Sonntagscafé fertigzustellen, wurde erreicht. Nach vier Stunden.
Wieder gab es falsche Messungen, Unachtsamkeiten und Unbedachtheiten, Sucherei und Flüche. Und trotzdem hatte das Arbeiten eine veränderte Qualität. Das angestrengt Zielgerichtete war geschwunden. Was zählte, war dieses Klötzchen, an dem jetzt noch zwei Millimeter abgelängt werden mussten oder der Balken, der doch nochmal gedreht werden musste, um eine bessere Auflage zu haben. Nichts muss schneller gehen als es geht. Es braucht alles die Zeit, die es braucht. Eine Grundzufriedenheit zog ins Arbeiten ein, befreit von einem abstrakten Plansoll.
Ich musste an den spanischen Eremiten** denken, der seit über fünfzig Jahren im wesentlichen allein an einer Kathedrale baut. Es übersteigt die Vorstellungskraft, wie ein Mensch ohne bautechnische Kenntnisse und fast ohne Geld ein Gebäude von solchen Dimensionen, mit großer Kuppel und hohen Türmen in allen Details selber bauen kann. Und mit welcher Beharrlichkeit er tagtäglich an sein Werk geht, um wieder ein paar Steine zu setzen oder ein Fenster zu verzieren. Dass er, mittlerweile fast neunzig, dieses Lebenswerk offensichtlich nicht mehr zuende bringen können wird, kümmert ihn nicht. „Ich baue jetzt und soweit wie ich komme“, sagt er.
Klötzchen für Klötzchen basteln wir weiter an der inneren Kathedrale. Und wenn wir irgendwann merken, dass dabei ein benutzbarer Dachboden herausgekommen ist, umso besser.
* Inhaber des Seegrashandels ist Jörn Hartje, auf den ich bei Utopia gestoßen bin. 🙂
** Ein kleines Filmchen über den Eremiten Justo Gallego Martinez und sein erstaunliches Werk.
Übrigens haben wir ab August Platz für zwei neue Mitbewohner. Nein, nicht im Dachboden!